Archiv für November 2009

Wiedergehört: Die schöne Müllerin

Sonntag, November 29th, 2009

Als ICE-Fahrer hat man gewisse Vorteile. Einer davon ist, dass man kostenlos beschallt wird. So kam ich dazu, im November mal wieder Schuberts Schöne Müllerin zu hören - in einer Aufnahme von Jonas Kaufmann mit Helmut Deutsch am Klavier. Von diesem Erlebnis angesteckt habe ich mir dann – nach etlichen Jahren wieder – meine eigenen Aufnahmen angehört, mit Fritz Wunderlich und Bo Skovhus.

Mein damaliger Eindruck, dass die Interpretation von Skovhus die bessere sei, hat sich wieder bestätigt. Fritz Wunderlich ist zwar an Stimmschönheit der beste deutsche Tenor der Plattengeschichte und, wenn man mich fragt, auch international nur von Jussi Björling geschlagen (dicht gefolgt allerdings vom jungen Pavarotti und Ferrucio Tagliavini) aber seine Interpretation der schönen Müllerin liegt, zumindest bei den ersten Stücken, deutlich daneben. Hört man Wunderlich “Das Wandern” oder “Wohin?” singen bekommt man den Eindruck, emotional bereits das Ende des Zyklus erreicht zu haben.

Zur Erinnerung: Ein Müllersgeselle begibt sich auf Wanderschaft (Das Wandern), kommt an eine Mühle (Halt!), verliebt sich dort in die Tochter des Müllers (Am Feierabend) – allerdings vergeblich (Eifersucht und Stolz). Schließlich – wie könnte es auch anders sein – bringt er sich um (Der Müller und der Bach). Wunderlich singt nun “Das Wandern” und “Wohin?” in derart bedrücktem Ton, dass man meint, des Müllers Suizid stünde unmittelbar bevor. Als seien die ersten 17 Nummern nur Rückblicke des zum Tode entschlossenen Müllers. Wunderlich platziert damit den gesamten Zyklus räumlich und zeitlich auf einen Ort, nämlich die letzten Momente des Müllers, sein letztes Zwiegespräch mit dem Bach. So verstanden wäre es natürlich richtig, jedes Stück mit einem Unterton tiefer Verzweiflung zu singen, jede (dann) vorgebliche Fröhlichkeit ad absurdum zu führen, gesanglich zu konterkarieren.

Ganz anders dagegen – und meines Erachtens richtig – baut Skovhus seine Interpretation auf. Er betrachtet die einzelnen Nummern als, im Großen und Ganzen, zeitlich aufeinanderfolgend mit dem unbeschwerten Beginn des wandernden Müllers über den emotionalen Höhepunkt der erfüllt geglaubten Liebe (Ungeduld) bis zu abgründiger Verzweiflung und schließlich Tod. Skovhus hat, und unter anderem deshalb schätze ich seine Version so, auf jeden Fall den Text auf seiner Seite. “Das Wandern” ist im Präsens gehalten, kann meines Erachtens aber sowohl als Abschied an den Lehrherren, als auch als Wanderlied verstanden werden. “Wohin?” dagegen steht im Perfekt, “Halt!” dagegen wieder im Präsens. Daraus lässt sich nur folgern, dass “Wohin?” in der Tat einen Rückblick darstellt, allerdings nicht erst zum Zeitpunkt des bevorstehenden Selbstmordes, sondern während der Müller am Bach entlang wandert, kurz bevor er der Mühle gewahr wird. Insofern ist Skovhus Interpretation die “richtigere”.

Zurück zu Kaufmann: seine “Müllerin” ähnelt eher der von Skovhus, man muss sich also nicht jedes mal aufregen, wenn man ihn “Das Wandern” singen hört. Somit ist sie durchaus geeignet lange Zugfahrten kurzweilig zu gestalten.

Namedropping und Diskussionskultur

Freitag, November 27th, 2009

Mit zwei Geisteswissenschaftlern diskutiert und keine Argumente, dafür aber viele Namen gehört. Nun, ganz so schlimm war es nicht, aber mir ist wieder diese Unart des namedropping aufgefallen – eine Unart, die ich vornehmlich bei Geisteswissenschaftlern, weniger aber bei Gesellschafts- oder Naturwissenschaftlern beobachte. (Als Gessellschaftswissenschaften seien hier alle Disziplinen verstanden, deren Schwerpunkt auf menschlicher Interaktion liegt wie zB bei den Historikern, den Soziologen oder vielleicht sogar den praktischen Philosophen, während Geisteswissenschaften diejenigen sind, deren Objekt das Kulturgut als solches ist, also z. B. Sprach- oder Literaturwissenschaftler.)

Man kann meiner Erfahrung nach vier Arten des namedropping unterscheiden, die zwei verschiedenen Formen der Diskussion zuzuordnen sind. Letztere seien die Expertendiskussion, also eine Diskussion zwischen Personen, die sich mit dem gegenstand einigermaßen intensiv auseinandergesetzt haben und die Laiendiskussion, bei der nur einer der Beteiligten ein Experte ist oder – noch häufiger – sich zumindest dafür hält.

In der Expertendiskussion dient das namedropping entweder der Abkürzung der Argumentation oder der Verwertung fremder Erkenntnisse. Der Nenner eines namens kann erwarten, dass die anderen beteiligten die Autoritäten ihres Fachs kennen und sich daher durch kurze Hinweise auf deren (bekannte) Argumentation oder Erkenntnisse berufen, ohne sie lang(atmig) wiedergeben zu müssen. Dennoch wissen alle Beteiligten, worum es geht. (Um zwei Beispiele zu nennen: Historiker wissen was Sache ist, wenn jemand auf Goldhagens Kollektivschuldtheorie oder Wehlers Einschätzung der Bedeutung der DDR für die deutsche Geschichte hinweist.)

Ganz andere Zwecke erfüllt das namedropping demgegenüber in der Laiendiskussion. Hier geht es dem hingebungsvollen Namedropper immer um die Eroberung der Diskursmacht. Einerseits wird wie in der Expertendiskussion auch, das namedropping zum Ersatz für Argumentation. Während aber in der Expertendiskussion der Zweck lediglich in der Zeitersparnis besteht, wird in der Laiendiskussion zum vollwertigen Ersatz jeder Argumentation durch die erstens der Namedropper sich erspart eigene Argumente vorbringen zu müssen (was er mangels Verständnis vielleicht gar nicht kann) und zweitens wird mit dem Hinweis auf Autoritäten versucht, jede Widerrede von vornherein auszuschließen – wer könnte denn auch widersprechen, wenn doch Foucault, Winckler, Luhmann, Schleiermacher, oder meinetwegen auch Hinz und Kunz in ihrer bahnbrechenden Studie zur Beliebigkeit fallender Namen schon der gleichen Meinung waren? Der zweite Zweck – ich gebe zu eng verwandt mit dem ersten – besteht in der Simulation von Expertise. Das gezielte Einwerfen mehr oder weniger bedeutender Namen soll bei den anderen Beteiligten den Eindruck überlegener Kompetenz ob der Kenntnis der maßgeblichen Autoritäten wecken und mögliche zweifel an der Kompetenz des Namedroppers augenblicklich zerstreuen. In beiden Fällen allerdings geht es darum, die Hoheit über die Diskussion zu erlangen (und damit eine Diskussion möglichst nicht zuzulassen).

Warum mir dieses verhalten vornehmlich bei Menschen mit geisteswissenschaftlichem Hintergrund auffällt, weiss ich nicht. Vielleicht sind sich Gesellschaftswissenschaftler in höherem Maße der Relativität persönlicher überzeugungen und gesellschaftswissenschaftlicher Theorien bewusst, während Naturwissenschaftler derart von der Objektivität Ihrer Erkenntnisse beseelt sind, dass der Erkennende in der Wahrnehmung immer hinter die Erkenntnis zurücktritt. Bei Geisteswissenschaftlern dagegen scheint allzu häufig das Gegenteil der Fall zu sein.

Zitat des Tages: Freud

Mittwoch, November 25th, 2009

…dass der Staat dem einzelnen den Gebrauch des Unrechts untersagt hat, nicht weil er es abschaffen, sondern weil er es monopolisieren will…

(Sigmund Freud, Zeitgemäßes über Krieg und Tod, 1915)

Betrug und Fußball

Sonntag, November 22nd, 2009

Der Fußball hat seinen nächsten Skandal – es sollen Spiele manipuliert worden sein. Wer jetzt meint er müsste sich aufregen, sich entsetzen, dass der Deutschen liebster Sport von Betrügern durchsetzt ist, von kriminellen missbraucht wurde… hat das Wesen des modernen Fußballs nicht verstanden. Der moderne Fußball ist schließlich nicht einfach eine Form der Körperertüchtigung, er ist nicht nur eine Massenveranstaltung, deren Fahnengepränge und “Sieg!”-Geschrei ausreichend Anlass zur Skepsis bietet; er ist nicht nur eine Ausrede für organisierte Gewaltexzesse oder ein Feigenblatt für wieder entdeckten Nationalismus. Dies alles ist der Fußball, aber vor allem ist er – Geschäft, eine Möglichkeit viel Geld zu verdienen, eine Möglichkeit, sich zu bereichern, gerne auch auf Kosten anderer. Und weil der Fußball ein riesiges Geschäft ist, kommt der Skandal nicht überraschend, ist der Betrug vielmehr ein systemimmanentes Problem, denn der Unterschied zwischen „sauberem“ Geschäft und Betrug ist nur ein gradueller.

Ob es Alternativen gibt, eine Chance auf einen sauberen Fußball? Ja, natürlich. Sobald der Fußball wieder Sport ist und nicht Gewerbe, sobald es wieder ausschließlich um die Ehre der Teilnahme geht und nicht um den monetär vergüteten Sieg, dann wird es einen „sauberen“ Fußball geben. Allerdings wird der Fußball dann nicht mehr sein heutiges Kleid tragen können. Er wird das Flatterkleidchen aus Euroscheinen tauschen müssen gegen ein schlammverschmiertes Trikot und statt den dekadenten Charme einer Edelprostituierten zu versprühen wird er mit dem glanzlosen Habitus eines Arbeiters dahergeschlurft kommen.

Ist das ein Nachteil? Nicht für diejenigen, die ernsthaft diesen Sport betreiben oder ihm anhängen. Die Massen aber, die im Fußball Kompensation für ihr ereignisarmes Leben suchen, Geborgenheit in der seelenlosen Menge, durch Farben vermittelten Triumph und archaische Rituale werden sich einen anderen Sport suchen und ihn verderben. Und ihnen folgen werden die Geschäftemacher, um durch Betrug zu erreichen, was durch Ehrlichkeit nicht zu erreichen wäre.

Verdirbt Geld den Charakter? Nein, der Mensch ist bereits verdorben. Und hinter der Maske des Helden, den Recht, Moral und Wunschtraum herbeizuzwingen suchen lauert doch immer der Leichenfledderer.