Archiv für Januar 2010

Untergang der Kindheit?

Sonntag, Januar 24th, 2010

Infomania nimmt diese Woche Schönheitswettbewerbe aufs Korn – allerdings nicht irgendwelche Schönheitswettbewerbe, sondern solche für Kinder. Kleine Kinder werden in Abendkleider gesteckt, mit Sonnenbräune aus der Dose eingesprüht, von Make-up-Artists (oder ihren Eltern) angemalt und auf Laufstege gestellt, wo sie hinternwackelnd um irgendwelche Schönheitstitel buhlen. In meiner Welt werfen solche Veranstaltungen eine Menge Fragen auf… z. B. wer – außer Paedosexuellen - sich solche Shows ansieht; wer – außer Paedosexuellen – sich dazu hergibt, bei solchen Shows den Preisrichter zu geben; ob es nur die gehässige Szenenauswahl des Infomania-Teams ist, oder ob tatsächlich nur deutlich übergewichtige, minderattraktive Frauen ihre Kinder zu solchen Veranstaltungen schicken; ob das ganze nicht einfach nur ein weiteres Unterschichtphänomen ist und so weiter.

Eine andere Frage finde ich spontan allerdings spannender: Was machen wir mit unseren Kindern? Oder, anders gefasst: Sind diese Shows nur eine weitere Perversion der medial inszenierten Gesellschaft oder bereits ein Zeichen für einen kulturellen Paradigmenwechsel? Seitdem die westlichen Gesellschaften im 19. Jahrhundert die Kindheit erfunden haben, war diese vor allem eins – ein Schutzraum der Kinder gegenüber der Erwachsenenwelt. Eine Zeit, in der die Kinder sich spielerisch und frei von Verantwortung auf das Leben vorbereiten konnten, eine Zeit, in der sie anders waren als die Erwachsenen, was sich nicht zuletzt in der besonderen Kleidung von Kindern widerspiegelt… oder – mit Blick auf vierjährige Mädchen in Cocktailkleidern – widerspiegelte. Gerade im 20. Jahrhundert waren Kinder auch modisch nicht mehr kleine Erwachsene, sondern Menschen in einem vom Erwachsensein deutlich geschiedenen Lebensabschnitt. Dieser Lebensabschnitt wurde in Moderne und Postmoderne durch die Einbeziehung der Jugend immer weiter ausgedehnt, bis er in den heutigen Jugendwahn mündete, in dem eigentlich niemand mehr die Jugend verlassen will.

Was nun in diesen Shows passiert ist das genaue Gegenteil – Kinder werden angezogen und (in gewissen Grenzen) behandelt wie Erwachsene. Man könnte sagen, dass hierdurch den Kindern ihre Kindlichkeit genommen, ihre privilegierte Stellung untergraben wird und alles in allem ein Rückfall im alteuropäische Vorstellungen vorliegt. Andererseits haben wir bereits gesehen, dass Kindheit und Jugend insoweit relativiert sind, als dass körperliche und geistige Jugendlichkeit bis weit in das Erwachsensein erhalten werden. So besehen sind diese Shows nur der konsequente nächste Schritt: zuerst usurpieren die Erwachsenen jugendliche Verhaltensmuster und Kleidungscodes, jetzt stülpen sie den Kindern ihre eigenen Werte, ihre eigenen Maßstäbe über. Was wir hier beobachten ist eine zunehmende Verwässerung der einst klaren Trennung zwischen Kindern/Jugendlichen auf der einen und Erwachsenen auf der anderen Seite. Kinder werden gezwungen, sich erwachsenen Attraktivitätsstandards zu unterwerfen und Fünfzigjährige imitieren die Dresscodes von Teenagern. Es ist meines Erachtens nicht übertrieben hier in der Tat einen kulturellen Paradigmenwechsel zu sehen.

Randnotiz zur Literalisierung

Sonntag, Januar 10th, 2010

Gemeinhin ist ja bekannt, dass Frauen diskriminiert werden, nicht die gleichen Bildungschancen haben und eine Angleichung der Lebensverhältnisse erst in den letzten 30 Jahren stattgefunden hat. Insbesondere ist aber allgemein bekannt, dass “früher” (nein, nicht alles besser war) Frauen geradezu bewusst “dumm” gehalten wurden. Individuelle Ausnahmen bestätigen hier nur die Regel. Eine Ausnahme allerdings hat mich wirklich überrascht: in den industriell unterentwickelten ruralen Gebieten Englands hat sich Ende des 19. Jahrhunderts der Literalisierungsprozess alles andere als “normal” entwickelt. Während nämlich zwischen 1860 und 1914 die Alphabetisierung der Männer kaum Fortschritte machte, schritt die Literalisierung der Frauen nicht nur schneller voran, sondern übertraf die der Männer. Das ist der einzige mir bekannte Fall, einer gegenüber der männlichen h&ouml,heren weiblichen Literalitätsrate in Europa vor dem 20. Jahrhundert. Worauf diese Entwicklung zurückzuführen ist, weiss ich allerdings nicht.

Zitat des Tages: Schiller

Samstag, Januar 9th, 2010

Der Nutzen ist das große Idol der Zeit, dem alle Kräfte fronen und alle Talente huldigen sollen. Auf dieser groben Waage hat das geistige Verdienst der Kunst kein Gewicht, und, aller Aufmunterung beraubt, verschwindet sie vom lärmenden Markt des Jahrhunderts.
(Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, 1795)

Man könnte meinen, er beschriebe das 21. Jahrhundert. Das nenne ich Aktualität.