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Bücher: Delizia! The epic history of the Italians and their food

Sonntag, März 9th, 2008

Es gibt Bücher, bei denen der Leser spätestens nach der Lektüre (meist jedoch schon währenddessen) feststellt, dass sie nicht halten, was ihr Titel versprochen hat. Delizia gehört glücklicherweise nicht zu dieser Sorte. Wie im Titel offen, und wie der Leser erfährt nicht vollmundig, angekündigt, erzählt Dickie die Geschichte der Italiener und ihres Essens. Anders als man es als Leser geschichtswissenschaftlicher Bücher, die sich tendenziell mit Politik oder Krieg befassen, erwarten würde gelingt es dem Autor auf elegante und unterhaltsame Weise, die Geschichte der italienischen Küche mit der Geschichte des Landes zu verquicken und er führt den Beweis, dass die Entwicklung regionaler Essgewohnheiten tatsächlich beredt Zeugnis ablegen für die politische und gesellschaftliche Entwicklung einer „Nation“.

John Dickie, in Deutschland bekannt durch sein kürzlich auf deutsch erschienenes Buch über die Mafia („Cosa Nostra“), ist Historiker und Journalist und lehrt am University College in London. Nach zahlreichen Veröffentlichungen zur Geschichte und Kultur Italiens (z.B.: A Patriotic Catastrophe - 2005) bleibt er sich auch mit seinem neuen Buch über die italienische Küche zumindest in geographischer Hinsicht treu.

Er eröffnet seine Geschichte der italienischen Küche mit einem Paukenschlag, der zugleich ein immer wiederkehrendes Thema des Buches vorgibt: Er verabschiedet sich von einem der meist verbreitetsten Mythen, die in Bezug auf die italienische Küche bestehen – ihre ländliche Herkunft. Am Beispiel einer Werbekampagne, die diesen Mythos wiedergibt, zeigt er die beeindruckende Realitätsferne solcher Legenden, die nicht nur einem romantisch verklärten Nationalismus, sondern heutzutage vor allem der Werbeindustrie zu verdanken sind. Beide Themen, die Herkunft der heutigen italienischen Küche von der Küche der Städte und des Adels und der lachende Abschied von Küchensagen trifft der Leser in „Delizia“ wiederholt an.

Das erste Kapitel – als würdiger Nachfolger der fulminanten Einleitung – beschäftigt sich gleich mit dem Inbegriff der italienischen Küche – mit Pasta. Es ist allgemein bekannt, dass Nudeln von Marco Polo in Italien eingeführt wurden, aber in diesem Fall könnte man schon fast von Volksunbildung sprechen. Dickie gelingt unter Berufung auf maurische Geographen der Nachweis, dass Pasta secca (getrocknete Nudeln) bereits lange vor Marco Polos (tatsächlicher oder angeblicher) Reise nach China bekannt waren.

Vom mittelalterlichen Sizilien aus nimmt Dickie den Leser mit auf eine Reise durch Zeit und Raum, die über die Zwischenstationen Rom und Ferrara (Renaissance), das Neapel des 17. Jahrhunderts und das faschistische Italien bis in die Moderne führt. Die Reise endet mit einer fröhlichen Kritik der Slow Food Bewegung dort wo sie in der Einleitung ihren Ausgang genommen hat – in der Toscana.

Dickie schreibt, mal mit einem Augenzwinkern, mal mit deutlich sarkastischem Unterton, gleichzeitig der wissenschaftlichen Genauigkeit und dem Lesevergnügen verpflichtet. Der, für ein Buch das für den Massenmarkt bestimmt ist umfangreiche, Anhang macht Lust, sich tiefer mit dem Thema zu beschäftigen und der flüssige Stil ist ein weiteres Beispiel dafür, dass angelsächsische Autoren eher als deutsche bereit sind, Wissenschaft unterhaltsam zu verbreiten. Beispielhaft mag hier die Darstellung einer Ausstellung regionaler Gerichte im Jahr 1938 dienen. Wie die Nationalsozialisten sahen auch die Faschisten im Bauern das Fundament ihrer neuen Gesellschaft und forderten die „Verländlichung“ Italiens. Dennoch präsentierte die Ausstellung von 1938 vornehmlich Städte, allen voran Rom, Venedig und Neapel, in deren „typischen“ Restaurants singende Köche den „Bauern“ und „Matrosen“ Pasta servierten. Und so schließt Dickie mit dem bissigen Kommentar: „Mussolini’s ‘rustic village’ was one of Italy’s first examples of pastoral gastronomic kitsch.“

Ich habe das Buch mit Interesse, Vergnügen und regelmäßigen Hungerattacken gelesen und erlaube mir mit den neu gewonnenen Kenntnissen über die Küchenmoden der letzten Jahrhunderte auch die aktuellen Moden nicht allzu ernst zu nehmen. Jedem, der sich nicht scheut, englische Literatur zu lesen, sei „Delizia“ wärmstens empfohlen. Denen, die den Aufwand scheuen wünsche ich, dass es bald ins Deutsche übersetzt wird.

Mehrheiten und andere Arcana

Sonntag, März 2nd, 2008

Die Hamburger haben gewählt und ähnlich den Hessen die Parteienlandschaft verändert. Nun ist allerdings die Situation in Hamburg nicht ganz so kompliziert wie in Hessen, hat doch Ole von Beust die Option mit der GAL zu koalieren. Sollten die Hamburger Grünen ihre unverständlichen Vorbehalte gegen die CDU ablegen – immerhin stammt ihre Wählerschaft aus dem Milieu, das die CDU lautstark für sich in Anspruch nimmt – könnte es zur ersten schwarz-grünen Koalition in einem Bundesland kommen.

In Hessen ist dagegen die Situation verfahrener. Die CDU beansprucht die Regierungsbildung für sich und offenbart dabei ihr tiefgehendes Unverständnis für das deutsche Wahlsystem, stellt doch nach einer Verhältniswahl die Mehrheitskoalition im Parlament die Regierung, nicht die größte Fraktion, die im Zweifelsfall doch nur eine Minderheit des Wahlvolkes repräsentiert; die FDP warnt zwar lauthals vor der „kommunistischen Gefahr“, rührt aber keinen Finger um eine wie auch immer geartete Regierungsbeteiligung der Linkspartei zu verhindern, sondern zieht sich in den Schmollwinkel zurück, weil sie ihr Wahlziel nicht erreicht hat; die Grünen weigern sich verbissen, in eine sogenannte Jamaikakoalition einzutreten, statt ihre Stellung als Mehrheitsgarant zu nutzen und ihre Vorstellungen durchzusetzen; und die SPD schließlich will zwar angeblich mit der Linkspartei nicht kooperieren, unternimmt aber auch nichts, um eine andere Koalition möglich zu machen. Manchmal fragt man sich ernsthaft, was eigentlich der Unterschied ist zwischen einem Parlament und einem Kindergarten. Auch die Überlegung, Neuwahlen anzustreben, zeugt nicht gerade von Verantwortungsbewusstsein. So möchte man den hessischen Politiker frei nach Brecht zurufen: „Wenn euch euer Wahlvolk nicht gefällt, so löst es doch auf und wählt ein neues!“

Bei all’ dieser Selbstinszenierung, bei all’ dieser standhaften Weigerung, verantwortungsbewusst mit dem Wählerauftrag zu verfahren, verstellen unsere Politiker sich und uns den Blick auf die wirklich interessanten Fragen, die die letzten drei Landtagswahlen aufgeworfen haben: Wie entwickelt sich die Parteienlandschaft? Warum kommt es zu dieser Entwicklung? Was bedeutet diese Entwicklung für die Demokratie und unsere Parteien?

Die Parteienlandschaft, gewinnt man den Eindruck, befindet sich im Wandel. Die Zeiten, da die beiden Volksparteien sich den Bundestag nur mit ihrem Mehrheitsbringer FDP teilen mussten sind bereits seit 1983 vorbei, als die Grünen in den Bundestag einzogen. Auch die Linkspartei scheint fest im gesamtdeutschen Parlament verankert zu sein und erobert nun die westdeutschen Länderparlamente. Dabei ist davon auszugehen, dass es sich bei den Erfolgen der Linkspartei nicht nur um eine Protestbewegung handelt, schließlich rekrutiert sich ihre Wählerschaft im Gegensatz zur klassischen Protestw&auml,hlerpartei NPD aus dem Bürgertum, das nicht gerade für allzu kurzsichtige Wahlentscheidungen bekannt ist. Sollte die Linkspartei nicht vom NPD-Syndrom befallen werden und erleben müssen, wie ihre Fraktionen wegen interner Differenzen oder staatsanwaltlichem Eingreifen auseinanderfallen, dürften die Abgeordneten ein dauerhafter Anblick in den deutschen Parlamenten werden. Dann ist aber aus der alten Drei-Parteien-Landschaft der 60er und 70er Jahre eine Fünf- oder gar Sechs-Parteien-Landschaft (eine Partei aus dem rechten Spektrum) geworden.

Natürlich stellt man sich jetzt die Frage, wie es zu dieser Entwicklung kommen konnte. Warum wählt das deutsche Wahlvolk plötzlich fünf Parteien obwohl es bis in die 80er Jahre hinein mit drei Parteien zufrieden war? Meines Erachtens dürfte der Hauptgrund hierfür sein, dass sich die deutsche Gesellschaft zunehmend diversifiziert, was mit einem Verschwinden geschlossener Milieus einhergeht. Als erstes musste die SPD den Verlust der Arbeiterklasse erleben. In einer modernen Dienstleistungsgesellschaft gibt es kaum noch Platz für den klassischen Arbeiter. Hinzu kommt, dass die integrative Wirkung der klassenkämpferischen SPD (und KPD) der zwanziger Jahre nicht mehr existiert. Der zunehmend egalitäre Habitus der Bonner und Berliner Republik (der vielleicht tatsächlich in dem nationalsozialistischen Gedanken der Volksgemeinschaft wurzelt) verhindert ein wie auch immer geartetes Klassenbewusstsein der Arbeiterschaft. Dabei mag das schlechte Vorbild der DDR durchaus auch eine Rolle gespielt haben. Den autoritären “Arbeiter- und Bauernstaat” in Sichtweite fällt es schwer, Klassenkampfparolen zu verbreiten. Diese Entwicklung wurde sicher durch die Ausrichtung der SPD in der Ära Schröder verstärkt. Durch den Versuch, die „neue Mitte“ als Wählerschaft zu erobern und sich als Reformkraft in der politischen Landschaft zu etablieren hat sich die SPD von ihrer Stammwählerschaft entfernt und sicher zu einem guten Teil zum aktuellen Erfolg der Linkspartei beigetragen.

Obwohl sie zur Zeit tendenziell die größte Partei ist, ist die Situation für die CDU nicht besser. Auch wenn die Kommentatoren der FAZ geradezu verzweifelt weiterhin von „bürgerlichen“ Parteien sprechen, wenn sie die CDU und die FDP meinen, ändert das nichts an zwei Tatsachen, mit denen sich die CDU wird abfinden müssen: ihr altes Wählermilieu existiert nicht mehr (darin ähnelt sie der SPD) und sie ist keine bürgerliche Partei. Vorbei sind die Zeiten, als am Wahlsonntag die Hirtenbriefe der deutschen Bischöfe verlesen wurden, die es jedem Christen quasi zur heiligen Pflicht machten, die CDU zu wählen. Das christlich-bürgerliche und chritlich-bäuerliche Milieu, das einst Garant für die Wahlsiege der CDU war, existiert nicht mehr. Die integrative Kraft der christlichen Kirchen in Deutschland ist verschwunden. Hinzu tritt, dass sich die CDU durch ihre zwar wirtschaftsliberale, aber dafür bürgerrechtsferne Grundausrichtung zunehmend in Opposition zu den Kirchen setzt. Damit, und das dürfte noch schwerer wiegen, stößt sie aber auch das Bürgertum, insbesondere das Bildungsbürgertum ab, das nach einer Untersuchung der Forschungsgruppe Wahlen eher die Grünen und die Linkspartei wählt. Einzig landwirtschaftlich geprägte gesellschaftliche Gruppen und die Gruppe der über 50 Jährigen scheint noch fest in der Hand der CDU zu sein.

Zu dieser Auflösung alter Milieus tritt aber noch die zunehmend unterschiedliche Schwerpunktsetzung in der Wählerschaft hinzu. Die sogenannten Volksparteien können einfach nicht alle Themen gleich kompetent besetzen. Daher wählt, wer eine möglichst ungezügelte Wirtschaftsentwicklung befürwortet eher die FDP, wer Wert auf Umweltpolitik und den Bestand der Bürgerrechte legt, die Grünen und wer seine Wahlentscheidung von der Besetzung des Themas „soziale Gerechtigkeit“ abhängig macht, tendiert zur Linkspartei. Unter diesen Umständen bleiben für CDU und SPD vornehmlich die Macht der Gewohnheit und der Vorteil der höheren Medienpräsenz. Das alles lässt aber nur den Schluss zu, dass die beiden „großen“ Parteien in absehbarer Zukunft aufhören werden, Volksparteien zu sein (die SPD hat dieses Schicksal in bereits in Sachsen, die CDU in Brandenburg ereilt, wo sie jeweils nur drittstärkste Partei wurden).

Für die Zukunft lässt diese Entwicklung auf einen endgültigen Bruch der Dominanz von CDU und SPD hoffen. Allerdings stimmt dieser Befund nicht nur positiv. In einem Parlament, dass aus bis zu sechs Parteien besteht, in dem die Parteien womöglich ähnlich groß sind, ist eine Regierungsbildung natürlich komplizierter als in einem Parlament, das von ein oder zwei großen Parteien beherrscht wird. Die aktuelle Bewegungslosigkeit in Hessen und der Ruf nach Neuwahlen lässt bereits die Erinnerung an die Weimarer Republik dräuend am Horizont aufziehen. Schließlich hat Deutschland die konsequente gegenseitige Blockade politischer Parteien bereits erlebt und der Hang der Weimarer Politiker, sich kooperationsbereit nur zu zeigen, solange man nicht konstruktiv arbeiten musste (bei Streiks war durchaus auch eine Zusammenarbeit von KPD und NSDAP möglich), hat direkt in die Diktatur geführt. Noch ist es glücklicherweise nicht so weit, aber um eine solche Entwicklung in die Unregierbarkeit zu vermeiden ist es notwendig, dass die politische Klasse in Deutschland unterstützt von den Medien mehr Verantwortungsbewusstsein an den Tag legt, als sie bisher gezeigt hat. Für die Politiker muss es zum obersten Ziel werden, nach einer Wahl eine handlungsfähige Regierung zu bilden. Sich gegenseitig aus dem Schmollwinkel heraus nur Wortbruch vorzuwerfen ist nicht zielführend. Von den verantwortlichen Politikern sind nun Eigenschaften verlangt, die in einer Mediendemokratie eine untergeordnete Rolle zu spielen schienen: Zurückhaltung, Gemeinwohlorientierung und Kompromissbereitschaft. Die aus dem Narzissmus des einzelnen Politikers geborene geistige Bewegungslosigkeit, der Drang, sich auf Kosten einer sachlichen Politik vornehmlich der Selbstdarstellung zu widmen, sind unter diesen Umständen nicht zukunftsfähig. In dieser Hinsicht scheint die Bundeskanzlerin bereits ein Vorbild zu sein. Während sie die aus Selbstverliebtheit geborenen Zwiste ihren nachgeordneten Chargen überlässt, scheint das Prinzip ihres Handelns die Suche nach Ausgleich zu sein. Sie scheint sich selbst als vermittelnde Kanzlerin zu sehen und weniger als Entscheidungsträgerin. Die guten Noten, die ihr die Deutschen ausstellen scheinen ihr Recht zu geben. Dass sie ihre Rolle vornehmlich durch politische Untätigkeit ausfüllt, dass ihre Moderation vornehmlich darin besteht, nicht in Erscheinung zu treten (außer als hessische Wahlkämpferin), haben die angelsächsischen Medien längst durchschaut. Den Deutschen steht diese Erkenntnis noch bevor. Dennoch bleibt zu hoffen, dass die Politiker schnell mit den veränderten Umständen zu leben lernen.

Zeitzeugen

Donnerstag, Januar 31st, 2008

Der Zeitzeuge ist bekanntlich der natürliche Feind des Historikers. So gerne man seine Berichte der offiziellen Geschichtsschreibung hinzufügt, und so vorteilhaft ein lebender Zeitzeuge, den man einem hochnotpeinlichen Verhör unterziehen… ich meine natürlich interviewen kann, ist, so störend sind auch die ganzen subjektiven Einwürfe für die wissenschaftliche Diskussion. Man denke nur an die Aufregung um die Wehrmachtsausstellung oder an die Schwierigkeiten der Aufarbeitung der DDR.

Dieses Problem ist Deutschland jetzt zumindest mit Blick auf den Ersten Weltkrieg los. Der letzte deutsche aktive Kriegsteilnehmer starb nämlich am 01. Januar 2008 von Öffentlichkeit und Medien weitgehend unbeachtet im Alter von 107 Jahren in Köln. Dr. Erich Kästner, zufällig ein Namensvetter des deutlich berühmteren Schriftstellers wurde 1900 in Leipzig geboren. Aufgrund der Gnade der späten Geburt blieben Kästner die großen Schlachten des Ersten Weltkriegs allerdings erspart. Er diente vier Monate in einem königlich-sächsischen Infantrieregiment in Flandern, wurde aber anders als viele Altersgenossen, die noch in den letzten Monaten des Krieges das schwer angeschlagene Heer verstärken mussten, nicht in vorderster Linie eingesetzt.

Womit Kästner in der unruhigen Zeit der Weimarer Republik neben seinem Jurastudium beschäftigt war, ist bisher ungeklärt. Die Aussagen seines Sohnes legen allerdings nahe, dass er nicht zu den Freunden der Republik gehörte. Da er angeblich „Wachaufgaben“ an der Leipziger Universität wahrnahm, dürfte meines Erachtens eine Mitgliedschaft in einem Freikorps nicht ausgeschlossen sein.

Während des Zweiten Weltkriegs diente Kästner als Oberleutnant und/oder Major (die Darstellungen gehen auseinander) bei der Luftwaffe und war in Frankreich bei der Flugabwehr sowie später als Stabsadjutant im Oberkommando der Luftwaffe eingesetzt.

Der Kommentator des Spiegel bedauert, dass nun der letzte Zeuge des ersten Weltkriegs gestorben sei und äußert sein Unverständnis darüber, dass Kästner in Deutschland, anders als es in Frankreich oder USA der Fall gewesen wäre, keine besonderen Ehrungen zu teil wurden. Die Frage nach der Notwendigkeit der besonderen Ehrungen für Kriegsteilnehmer in einer zivilen Gesellschaft sei an dieser Stelle dahin gestellt. Das Bedauern über den Tod eines Zeitzeugen kann ich jedoch in gewissen Grenzen nachvollziehen. Ich bedaure im Gegensatz zum Spiegel jedoch weniger den Tod des Kriegsteilnehmers – ich neige nicht zu Geschichten über feldgraue Herrlichkeit – sondern den Tod des letzten Menschen, der vom Ersten Weltkrieg geprägt, den Aufbau und den Untergang der Weimarer Republik miterlebt hat. Mit einem Alter von nichteinmal 33 Jahren zum Zeitpunkt der Machtergreifung Hitlers, gehörte Kästner zur tragenden und vor allem gestaltenden Generation des Dritten Reichs. Menschen wie Kästner hätten den zunehmend geschichtsvergessenen Epigonen, den Kindern des 21. Jahrhunderts vielleicht erklären können, warum sie, nachdem sie die Schrecken eines industrialisierten Krieges erlebt haben, gerade der politischen Bewegung gefolgt sind, die sich vornehmlich durch Menschenverachtung auszeichnete den nächsten Krieg entfesseln sollte.

Insoweit fehlt Kästner Deutschland tatsächlich. Vielleicht sollte sein unbeachteter Tod uns aber in Bezug auf ein anderes prägendes Ereignis der deutschen Geschichte eine Mahnung sein. Zeitzeugen stören schließlich nicht nur die wissenschaftliche Diskussion, sie stören vor allem durch die Authentizität, die ihnen innewohnt, die politische Vereinnahmung und Verfälschung der Geschichte. Daher wird es interessant sein, zu beobachten inwieweit sich das Verhältnis der Deutschen zum Holocaust und zum Zweiten Weltkrieg ändert, wenn in 20 Jahren die letzten Opfer gestorben sein werden und niemand mehr existiert, der einer ignoranten, primitiv-nationalistisch indoktrinierten Schulklasse (oder auch Polizeihochschulklasse) seine Tätowierung auf dem Arm zeigen kann. Vielleicht ändert sich die Haltung der Ignoranten dann von „Es war nicht alles schlecht“ in „So schlimm war es nun auch wieder nicht“. Allein schon aus diesem Grund (und weil mangelnde ideologische Distanz zum Dritten Reich um sich zu greifen scheint) wünsche ich allen, die unter dieser Diktatur leiden mussten ein mindestens ebenso langes Leben wie es Kästner hatte und hoffe, dass sie ihre Erfahrungen wenigstens niederschreiben.

Amerikanische Geschichte

Sonntag, Januar 6th, 2008

Es ist schon seltsam, wodurch man doch auf eigene Defizite aufmerksam wird. Bei mir war es ein Lied von Johnny Cash - “Last Cowboy Song” um genau zu sein. Die zweite Strophe (gesungen von Kris Kristofferson) enthält einige Anspielungen auf die amerikanische Geschichte und ich muss gestehen, dass ich nicht mit allen Namen etwas anfangen konnte. Das Ergebnis meiner darauf folgenden Recherchen will ich nicht für mich behalten, aber hier zuerst das relevante Zitat:

He blazed the trail with Lewis and Clark
And eyeball to eyeball old Wyatt backed down
He stood shoulder to shoulder with Travis in Texas
And rode with the Seventh when Custer went down.

Fangen wir vorne an: Meriwether Lewis und William Clark waren die Leiter der ersten Transamerika-Expedition, die von der Ostküste bis zum Pazifik führte und wieder zurück. Präsident Thomas Jefferson sorgte dafür, dass der Kongress die Expedition mit 2.500 $ finanzierte und bestimmte Captain Lewis zum Leiter. Dieser wählte Clark, zu diesem Zeitpunkt noch Second Lieutenant, als Mitleiter und verheimlichte seine Seniorität gegenüber den anderen Mitgliedern der Expedition.

Am 14. Mai 1804 brach die 33 Mann starke Gruppe Richtung Westen auf. Als Winterquartier wurde Fort Mandan in North Dakota gebaut und im Dezember 1805 erreichte die Expedition an der Mündung des Columbia River den Pazifik. Am 23. März 1806 begann die Heimreise, die am 23. September in St. Louis endete.

Die Expedition brachte nicht nur wertvolle Informationen über Flora, Fauna und Bewohner des Kontinents sondern leistet auch einen wichtigen Beitrag zur Kartographierung des us-amerikanischen Territoriums. Auf der zweijährigen Reise verloren Lewis und Clark nur einen Mann durch Krankheit. Zwei Blackfootindianer wurde auf der Rückreise in einem Gefecht getötet, als sie versuchten, Waffen zu stehlen.

Der nächste in der Liste dürfte deutlich bekannter sein: Wyatt Earp. Earp wurde am 18. März 1848 in Illinois geboren und starb am 13. Januar 1929 in Los Angeles. Er arbeitete als unter anderem als Sheriff, Farmer, Grundstücksspekulant und Glücksspieler. Bekannt wurde er vor allem durch die Schießerei am O.K. Corral, bei der Wyatt gemeinsam mit seinen Brüdern Virgil und Morgan sowie Doc Holiday gegen Frank McLaury, Tom McLaury, Ike Clanton und Billy Clanton antrat. Beide McLaurys und Billy Clanton wurden dabei getötet.

Bei “Travis in Texas” handelt es sich um Colonel William Barret Travis, der im texanischen Unabhängigkeitskampf die Mission von Alamo gegen die mexikanische Armee unter Genera Santa Anna verteidigte. Vorspiel zum texanischen Unabhängigkeitskrieg war die mexikanische Verfassungsreform durch Santa Anna 1835, durch die die Autonomierechte der einzelnen Provinzen eingeschränkt wurden. Im stark amerikanisch besiedelten Texas kam es daraufhin zu Unruhen und am 2. Oktober 1835 zur Schlacht von Gonzales, bei der 100 mexikanische Dragoner und über 140 amerikanische Kolonisten aufeinandertrafen. Die Mexikaner zogen sich nach kurzem Kampf zurück und die Amerikaner eroberten in der Folge weitere Positionen der mexikanischen Armee, so dass es bald keine militärische Präsenz mehr in Texas gab. Daraufhin marschierte Santa Anna mit ca 6000 Mann und 20 Kanonen nach Texas.

1836 sandte die provisorische texanische Regierung Travis nach Alamo, um die dort befindlichen Truppen mit freiwilligen zu stärken und die Mission gegen die mexikanische Armee zu verteidigen. Die Freiwilligen kamen aus verschiedenen Bundesstaaten der USA und unter ihnen befanden sich unter anderem Jim Bowie und David “Davy” Crockett. Insgesamt war Alamo mit ca 250 Verteidigern besetzt.

Am 23. Februar 1836 begann Santa Anna die Belagerung von Alamo. 12 Tage lang lagen die Verteidiger unter mexikanischem Artilleriebeschuss bevor Santa Anna am 06. März mit 1500 Mann zum entscheidenden Angriff überging. Um 5 Uhr morgens marschierten die Mexikaner in vier Kolonnen auf Alamo, durchbrachen die Nordmauer und stürmten die Mission. Um 8 Uhr waren alle Verteidiger tot mit Ausnahme einiger Gefangener, die nach der Schlacht hingerichtet wurden. Die mexikanischen Verluste beliefen sich auf ca 200 Tote und 400 Verwundete, was einer regelrecht katastrophalen Verlustrate von 43% entspricht.

Trotz der Niederlage in Alamo konnten die Verteidiger dem texanischen Oberkommandierenden Houston genug Zeit verschaffen, um die Verteidigung von Texas zu organisieren. Die durch weitere Gefechte auf unter 1000 Mann reduzierte texanische Armee traf am 21. April zur entscheidenden Schlacht auf Santa Annas zu diesem Zeitpunkt ca 1400 Mann starke Armee. Um 16:30 Uhr lies Houston seine Truppen, vor der mexikanischen Armee gedeckt durch Bäume und eine Anhöhe antreten und leise auf das Lager der Mexikaner marschieren. Obwohl sie dabei offenes Gelände überqueren mussten blieben die Texaner unentdeckt, weil Santa Anna es unterlassen hatte Posten aufzustellen. Als sie sich bis auf einige dutzend Meter dem Lager genähert hatten, eröffneten die Texaner das Feuer und griffen unter dem Schlachtruf “Remember the Alamo!” die Mexikaner an. Innerhalb von 18 Minuten verloren die völlig überraschten Mexikaner 630 Mann an Toten und 230 Verwundete. 730 Soldaten wurden gefangen genommen. Am nächsten Tag geriet auch Santa Anna in Gefangenschaft. Am 14 Mai verpflichtete sich Mexiko im Vertrag von Velasco, alle Truppen aus Texas abzuziehen. Endgültig unabhängig wurde Texas durch den Vertrag von Guadalupe Hidalgo, der 1848 den mexikanisch-amerikanischen Krieg beendete.

Die Niederlage bei Alamo führt uns schließlich zum letzten genannten amerikanischen “Helden” und damit einer weiteren Niederlage, Custer und dem 7. Kavallerieregiment. George Armstrong Custer wurde am 5 Dezember 1839 geboren und diente als Kavallerieoffizier im Bürgerkrieg und den Indianerkriegen. Er führte als Kommandeur des 7. Kavallerieregiments einen gemischten Verband aus Kavallerie und Infanterie in die Schlacht von Little Big Horn am 25. und 26. Juni 1876. Hier trafen ca 600 amerikanische Soldaten auf zwischen 900 und 1800 (letztere Zahl gilt als Übertreibung zum Schutze Custers) Krieger der Lakota, Cheyenne und Arapaho unter Führung von Crazy Horse (Thašųka Witko) und Sitting Bull (Tatanka Iyotanka). Trotz der technische und taktischen Überlegenheit der amerikanischen Armee gelang es Custer durch eine Reihe von Fehlentscheidungen, seine Position so zu verschlechtern (so lehnte er sowohl die angebotenen Gatling Guns, als auch zwei Kompanien Verstärkung ab), dass seine Truppen schwere Verluste erlitten und die unter seinem persönlichen Kommando stehende Abteilung völlig aufgerieben wurde.

Custer verteilte im Vorfeld der Schlacht seine Truppen auf vier Abteilungen. Ohne Kenntnis über die genaue Position des Indianerlagers oder die Stärke des Gegners befahl Custer der Abteilung unter Major Reno (ca 140 Mann), das Lager anzugreifen, um die Indianer Custer zuzutreiben. Entgegen den Erwartungen gingen die Indianer jedoch zum Gegenangriff über, umgingen Renos Abteilung und zwangen ihn, sich unter schweren Verlusten zurückzuziehen. Die von Custer versprochene Verstärkung blieb aus. Nachdem sie sich auf den Reno Hill zurückgezogen hatten wurden sie von Captain Benteen und 114 Mann verstärkt, die auf Erkundungsmission zufällig am gleichen Ort ankamen und die vollständige Vernichtung der Abteilung verhinderten.

Custer selbst marschierte nach Norden, vermutlich um die Indianer zwischen sich und Reno in die Zange nehmen zu können. Da Reno jedoch bereits zurückgeworfen war und Benteen sich entgegen seiner Befehle entschied, Renos Position zu sichern, statt Custer nachzueilen sahen sich Custers ca 220 Soldaten einer deutlichen Übermacht gegenüber. In dieser Situation griff Custer zur bewährten Kavallarietaktik der Schützenlinie, bei der immer drei Soldaten feuern, während der vierte die Pferde hält. So gelang es ihm, die eigene Feuerkraft um weitere 25% zu reduzieren. Obwohl die Indianer nicht einmal zur Hälfte mit Feuerwaffen ausgerüstet waren, wurde Custers Abteilung überrannt, wobei die Indianer im hügeligen Gelände die Tatsache ausnutzten, dass sie, gedeckt durch Büsche, ihre Pfeile in hohem Bogen auf die Amerikaner herabregnen lassen konnten. Da die Indianer Waffen und Munition der gefallenen Soldaten aufnahmen, stieg zudem mit steigenden Verlusten der Armee die Feuerkraft der Indianer. Custers Abteilung wurde innerhalb von etwa einer Stundevollständig aufgerieben.

Insgesamt betrug die Verlustrate der 7. Kavallerie bei 258 Gefallenen etwa 52%. Trotz des eindrucksvollen Sieges konnten die Indianer langfristig die Eroberung Nordamerikas nicht verhindern. Custer wurde im 19. Jahrhundert noch als Kriegsheld verehrt, sein Bild hat sich mittlerweile jedoch gewandelt. Im Zentrum der Betrachtung steht nicht mehr der angeblich heroische Kampf gegen einen überlegenen Gegner, sondern die durch Unklugheit und mangelnde Überlegung verschuldete Niederlage.

Küchengeräte und Weltgeschichte

Sonntag, Januar 6th, 2008

Manchmal gelingt es einfachen Dingen wie Küchengeräten, Einfluss auf den Lauf der Geschichte zu nehmen. Es muss nicht das Wetter sein, dass einen Krieg entscheidet und es müssen nicht immer Armeen sein, die einen Aufstand beenden. 1310 wurde z. B. in Venedig ein Mörser für die Beendigung eines Aufstandes berühmt.

Der Anfang des 13. Jahrhunderts herrschende Doge Pietro Gradenigo hatte sich aus verschiedenen Gründen in der Aristokratie unbeliebt gemacht. So war seine Außenpolitik vor allem durch militärische Niederlagen gekennzeichnet. Die Vorposten im Nahen Osten wurden 1291 vom ägyptischen Sultan Al-Malik Al-Ashraf Chalil erobert, die Kriege mit Padua und Konstantinopel verliefen nicht gerade erfolgreich und 1298 erlitt Venedig zudem eine verheerende Niederlage gegen Genua, bei der 84 von 95 Galeeren verloren gingen. Dass Venedig sich im anschließenden Frieden von Mailand (25.05.1299) dennoch die Vorherrschaft in der Adria sichern konnte änderte nichts daran, dass die Niederlage gegen Genua als schmählich empfunden wurde. Innenpolitisch wurde die Situation Venedigs durch die serrata, ein Gesetz, das die Regeln zur Wahl des Dogen und in den Großen Rat reformierte und langfristig den Bestand Venedigs für weitere 500 Jahre sicherte, konsolidiert. Die serrata verstärkte jedoch die Unzufriedenheit der aristokratischen Familien, die sich bei den letzten Dogenwahlen übergangen fühlten. Auch seine antipäpstliche Politik und sein Hang zum Nepotismus trugen nicht zur Beliebtheit des Dogen bei.

So kam es in den Jahren 1309/10 zu einem Aufstand gegen den Dogen und die Regierung. Die Familien der Querini, Tiepolo und Badoer stellten Truppen gegen den Dogen und die Patrizierfamilien Dandolo, Giustinian und Michiel auf. Die entscheidende Auseinandersetzung fand am 15. Juni 1310 statt. Die Aufständischen marschierten nachts zum Markusplatz wo sich der Dogenpalast befand. Die venezianische Überlieferung berichtet nun, eine alte Frau, Giustina (oder Lucia) Rossi, habe aufgrund des Lärms aus ihrem Fenster gesehen, die Aufständischen erblickt, daraufhin einen Mörser nach deren Standartenträger geworfen und diesen tödlich am Kopf getroffen. Die Fahne sank in den Staub und die Menge, die das Banner fallen sah, zog sich in Unordnung zurück. Den Truppen des Dogen gelang es daraufhin, die Aufständischen zu überwältigen.

Dieser Vorfall hatte Folgen, in persönlicher wie politischer Hinsicht: Die Anführer der Aufständischen wurden – mit Ausnahme von Tiepolo, dem die Flucht gelang – hingerichtet, Giustina Rossi erhielt das Recht, an Feiertagen das Markusbanner von ihrem Fenster wehen zu lassen und die Garantie, dass zeit ihres Lebens ihre Miete nicht erhöht würde und der Große Rat ein neues Überwachungsorgan zur Verhinderung von Aufständen ein, den Rat der Zehn, der sich im Laufe der Zeit zu einer nur beschränkt kontrollierbaren Geheimpolizei entwickelte.

So hat – zumindest der Überlieferung nach – ein Küchengerät den Dogen gerettet, wobei es recht unerheblich ist, ob der Fahnenträger nun von einem Mörser oder anderen Berichten zufolge von einem Kochtopf, einem Blumentopf oder einem Stein erschlagen wurde. Mir als Hobbykoch gefällt natürlich die Version mit dem Mörser am besten. Es sind eben manchmal auch die kleine (aber schweren) Dinge, die den Lauf der Geschichte lenken.